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Gottesdienst Berliner Dom 18.2.2018, Fastenpredigt
1. Mose 31,41ff

Christinnen und Christen sind Grenzgänger

Liebe Gottesdienstbesucherinnen und -besucher!

Ich lade Sie ein zu einem Gang auf Messers Schneide.
Grenzen sind gefährlich, schneiden ein und haben eine schlechte Presse.

Grenzen trennen.
Dazu sind sie da.

Übergriffig, un-verschämt, distanzlos sind in der gegenwärtigen Diskussion häufig gebrauchte Begriffe.

Im Bundeskinderschutzgesetz, im Arbeitsschutzgesetz, im Gleichstellungsgesetz – im Alltag und im Bundestag geht es um Übergriffe, um Grenzverletzungen.

Das „Wort des Jahres 2017“ war „Jamaika-Aus“.
Das Unwort des Jahres 2017 ist „alternative Fakten“.
Das Jugendwort des Jahres ist „I bims“. Es bedeutet „Ich bin“. Na ja.
Ein Dauerwort in den Medien ist bis heute die „Obergrenze“.

Ja überhaupt die Grenze.
Ob zwischen Mexiko und den USA;
zwischen Männern und Frauen;
zwischen Nord- und Südkorea.
Die Annektion der Krim belastet die Welt noch immer und teilt sie wieder in Blöcke.

Aktuell bei uns auch die Grenze zwischen einvernehmlicher Zärtlichkeit und Missbrauch.

Eine „Fastenpredigt“ wird fragen:

Was sollen wir geben?
Was sollen wir lassen?
Wer dürfen wir sein?

Was soll ich geben?
Was soll ich lassen?
Wer darf ich sein?

Dem möchte nachspüren.
Einmal mit der Geschichte einer etwa 40-jährigen Frau.
Und dann mit dem Rückblick auf eine beeindruckende biblische Grenzgeschichte.

Sie sitzt mir gegenüber. Den Mantel hat sie abgelegt. Den kleinen Schlüsselbund hat sie in der Hand behalten. Zwei Schlüssel und einen kleinen Plastikteddy.
Sie ist knapp vierzig. Lebt seit einem halben Jahr getrennt. Ich kenne sie aus wenigen Telefon-Gesprächen. Über einen Vorwand haben wir uns gemeinsam vorgetastet zu ihren eigentlichen Fragen.
Sie legt den Schlüssel nicht weg, nicht einmal, als sie mit beiden Händen die warme Teetasse umfasst. Sie ist noch Gast. Möchte die Schlüssel nicht weggeben, möchte den Rückzug nicht beschnitten sehen, will sich nicht ausliefern und zittert doch an Leib und Seele. Ich weiß nicht, was richtiger ist: Auf sie zugehen, trösten, wärmen.
Oder zurückweichen, ihr Raum geben, warten.

„Gestern ist wieder ein Brief vom Anwalt gekommen. Deshalb habe ich angerufen.

Es muss schmerzen, mit welcher Gewalt sie Schlüssel und Plastikbär zwischen Hand und Tasse fast zerdrücken will.
Sucht sie Halt? Will sie jemandem an die Kehle?

„Das ist so ein Schwein, das kann man gar nicht sagen!“
„Ihr Mann?“
„Nur weil ich im Bett nicht alles mitgemacht habe! Ich kann doch nichts dafür. Er hat mich doch gezwungen.“

Der Tee in der halbvollen Tasse schwappt über. Sie verkrampft noch mehr. Drückt die Schulter zusammen, die Oberarme seitlich an die Brust.

„Ich habe dann angefangen, bevor er kam, zwei oder drei Cognac zu trinken. Ich wollte doch meine Ehe nicht gefährden. Ich wollte doch nicht schuld sein.“

„Und darüber schreibt der Anwalt?“

„Ich sei Alkoholikern. So ein Schwein. Über zehn Jahre bin ich mit diesem Kerl verheiratet. Nun stellt er mich als Alkoholikerin hin und sagt, so jemandem könne man kein achtjähriges Kind anvertrauen.“

Pause.

Sie wischt ihre Tränen.
„Umbringen könnte ich ihn.“

Und endlich, nachdem das alles gesagt ist, endlich schaut sie mich geradeheraus an, nun vollkommen kontrolliert:

„Verstehen Sie das? Als Pfarrer?“

Den Hass nimmt dir keiner. Er führt sein Eigenleben tief unter der Haut, im Keller des Lebens, in der hintersten Ecke. Nährt sich an guten Tagen von abgelegten Bildern und verdrängten Träumen. An schlechten Tagen kommt er bis zur Treppe, sucht gefräßig nach alten Erinnerungen und neuen Wunden.

Nein, den Hass nimmt dir keiner. Es muss nur einer kommen, der tief genug bohrt. Und schon drängt es sich hemmungslos ans Licht: Längst gestorbenes und begrabenes Leben. Allenfalls kann man den Hass bändigen, seinen Schaden begrenzen, Bohrlöcher verschütten, Brände löschen.

Darf ein Mensch hassen?

Was haben wir nur angerichtet, als wir die Weisung der Nächstenliebe, gar der Feindesliebe zur „wahren Lehre“ erhoben haben, anstatt im Lehrer, in Jesus Christus selbst die Wahrheit zu suchen?

Viele sagen: „Das darf man als Christ nicht denken, das darf man als Christ nicht sagen…“

Wie viel inneres Elend „darf“ nicht geäußert werden, kommt nicht ans Licht, auch nicht ins Licht Gottes, findet deshalb keine Heilung, keine Wegweisung, keine Vergebung?

Als wir vor vielen Jahren einen meiner Gottesdienste im ZDF zum Thema „Wenn Wege sich trennen“ übertragen haben, erhielt ich bald tausend sehr persönliche Briefe, vor allem von Frauen.
Das war für mich und für das ZDF vollkommen unerwartet. Solche Zahlen waren bis dato kaum bekannt. Ein Karton voll Elend. Tausend lange Briefe, 8,10 und mehr Seiten lang.

Übergriff.
Schamlosigkeit.
Grenzverletzung.

Ich rede über tiefste Krisen in einem Menschenleben, über schlimmste Vergewaltigung und Ohnmacht.
In der ein Mensch vor Angst alles „frisst“, runterschluckt.

Oder in der ein Mensch seine letzte Bitte hinausschreit:
Er oder ich.
Nimm du es in die Hand, Gott.
Ich kann nicht mehr.

Hass macht blind.
Wer seinen Hass unterdrückt,
verbaut sich die Aussicht.

Wer in seiner tiefsten Not den Hass zulässt, schwemmt mit den Tränen Zugänge frei zu seiner Seele.

Wir bewegen uns im Grenzbereich.
„Richtig“ und „falsch“ sind in diesem Bereich kaum noch taugliche Maßstäbe. Hier geht es nicht um gekränkte Eitelkeit, um Geld und Lebensversicherungen,
um die Darstellung gemeinsamer Geschichte,
um Plus- und Minuspunkte vor dem Ehescheidungsrichter,
um Versorgungsansprüche und Familienschmuck
oder um politische Korrektheit.

Hier hilft auch keine theologische Spitzfindigkeit und kein ethischer Rigorismus.
Hier gibt es wohl überhaupt keine „stimmige“ „Lehre“.

Wo in Todesnot geschrien wird, geht es um Rettung.

Mein Hass gegen deinen Hass.
Es ist müßig, an dieser Stelle Moralpredigten zu halten.

Gott wirft sich zwischen uns.
Davon erzählt das Neue Testament.

Seitenwechsel – Rückschau:

Was haben sich Jakob und Laban nicht alles angetan. Zwanzig gemeinsame Jahre, mit Herzlichkeit und Küssen hat alles begonnen. Doch die Jahre des Zusammenlebens werfen mehr und mehr Schatten auf die Beziehung. Sie versuchen es mit „Gütertrennung“.
Als alles nichts nützt, zieht Jakob über Nacht aus und nimmt einfach mit, was ihm lieb und wichtig ist. Keiner ist dem anderen einen Fußtritt, eine Hinterlist, eine Lüge oder eine andere Bösartigkeit schuldig geblieben. Dann sind sie am Ende mit ihrem Latein. Bevor sie sich gegenseitig totschlagen, kommen sie zur Besinnung.

Jakob wirft Laban seine zwanzigjährige Erfahrung vor:

(Pastorin Dr. Zimmermann)

Des Tages kam ich um vor Hitze und des Nachts vor Frost und kein Schlaf kam in meine Augen. So habe ich diese zwanzig Jahre in deinem Hause gedient, vierzehn um deine Töchter und sechs um deine Herde, und du hast mir meinen Lohn zehnmal verändert.
Wenn nicht der Gott meines Vaters, der Gott Abrahams und der Schrecken Isaaks, auf meiner Seite gewesen wäre, du hättest mich leer ziehen lassen. Aber Gott hat mein Elend und meine Mühe angesehen und hat diese Nacht rechtes Urteil gesprochen.
Laban antwortete und sprach zu Jakob: Die Töchter sind meine Töchter und die Kinder sind meine Kinder und die Herden sind meine Herden und alles, was du siehst, ist mein. Was kann ich heute für meine Töchter oder ihre Kinder tun, die sie geboren haben? So komm nun und lass uns einen Bund schließen, ich und du, der ein Zeuge sei zwischen mir und dir.
Da nahm Jakob einen Stein und richtete ihn auf zu einem Steinmal und sprach zu seinen Brüdern: Lest Steine auf! Und sie nahmen Steine und machten davon einen Haufen und aßen daselbst auf dem Steinhaufen. Und Laban nannte ihn Jegar-Sahaduta, Jakob aber nannte ihn Gal-Ed.
Da sprach Laban: Der Steinhaufe sei heute Zeuge zwischen mir und dir. Daher nennt man ihn Gal-Ed (Der Name bedeutet „Steinhaufe des Zeugnisses“.) und Mizpa ( Der Name bedeutet „Spähort“) denn er sprach: Der HERR wache als Späher über mir und dir, wenn wir voneinander gegangen sind, dass du meine Töchter nicht bedrückst oder andere Frauen dazunimmst zu meinen Töchtern. Es ist hier kein Mensch bei uns; siehe aber, Gott ist der Zeuge zwischen mir und dir.
Und Laban sprach weiter zu Jakob: Siehe, das ist der Haufe und das ist das Steinmal, das ich aufgerichtet habe zwischen mir und dir.
Dieser Steinhaufe sei Zeuge und das Steinmal sei auch Zeuge, dass ich nicht an diesem Haufen vorüberziehe zu dir hin oder du vorüberziehst zu mir hin an diesem Haufen und diesem Mal in böser Absicht! …
Und Jakob schwor ihm bei … dem Gott seines Vaters. Und Jakob opferte auf dem Gebirge und lud seine Brüder zum Essen. Und als sie gegessen hatten, blieben sie auf dem Gebirge über Nacht.
Am Morgen aber stand Laban früh auf, küsste seine Enkel und Töchter und segnete sie und zog hin und kam wieder an seinen Ort.
Jakob aber zog seinen Weg. Und es begegneten ihm die Engel Gottes.

Sie bauen einen Steinhaufen als Mahnmal. Aus den Scherben ihrer kaputten Beziehung bauen sie an der Grenze zwischen „mir“ und „dir“ ein Zeichen auf. Sie gehen auseinander.
Der eine dahin, der andere dorthin.
Getrennte Wege.
Sie sind geschiedene Leute.
Und zwischen ihnen – ein Scherbenhaufen, ein Steinhaufe.

Doch nicht nur dies: Zwischen ihnen Gott selbst:

„Es ist hier (auf diesem Todesstreifen) kein Mensch bei uns; siehe aber, Gott ist Zeuge zwischen mir und dir…“

Sie haben abgeladen, Stein für Stein, Hass auf Hass, Todeswunsch auf Todeswunsch. Und nun richten sie sich auf. Sehen sich als Getrennte in die Augen. Gehen auseinander, – und leben. Und Gott ist Zeuge. Zeuge heißt im Griechischen „martys“ – Märtyrer.

Gott, Jesus Christus allein steht es zu, zwischen uns Zeuge zu sein.
Er hat sich dazwischen geworfen.

Keiner braucht Gottes Rolle zu übernehmen:
Keine Opfer mehr!
Am Anfang unser Hass,
in der Mitte sein Martyrium,
am Ende unser Leben.

„Verstehen Sie das? Als Pfarrer?“

Ja, ich verstehe das, auch als Pfarrer. Ich kenne die bewussten und geträumten Todwünsche.
Und nicht minder die damit verbundenen Schuldgefühle: Du bist verantwortlich für das, was du dem anderen an Schlimmem gewünscht hast. Wehe, es trifft ein.

Jakob und Laban bauen einen Altar, ein Steinmahl und rufen Gott zum Zeugen. Diese Klagemauer kann ich immer wieder anlaufen, sie markiert eine Grenze, „dass ich nicht an diesem Haufen vorüberziehe zu dir hin oder du vorüberziehest zu mir hin … in böser Absicht.“

Die Zeit des Steinesammelns, des Steinewerfens kommt an ein Ende.
Gott ist Zeuge.

Wer die Steine nicht ablädt, wird den Wunsch, sie zu werfen, nie los.

Ich kann nur werben und raten zur Klage, zur kontrollierten Äußerung hässlicher Gedanken und tödlicher Wünsche, zur Beichte.
Dann liegen die „Brocken“ da.

Man kann ihnen eine andere Funktion geben, kann vor ihnen zurückweichen. Kann um Vergebung bitten und um Heilung. Wird vielleicht immer wieder einmal zu diesem „Mahnmal“ zurückkehren, spürt, dass noch immer nicht alles „heraus“ ist.
Aber ich bin nicht mehr blind vor Hass, kann mich aufrichten und neue Wege gehen.

Mir fallen nur drei Möglichkeiten ein, wie ich mit der seelischen Rumpelkammer, der Ansammlung von Steinen in meinem Magen umgehen kann:

1. auf den anderen werfen, ihn verletzen, treffen, auslöschen;
2. die Wunden, die Angriffe und Bisse runterschlucken, krank werden
3. Gott zum Zeugen nehmen und an der Grenze einen Altar bauen.

Gott ist Zeuge.
Die Steine sind raus.
Die Nieren- und Gallensteine.
Die Wackersteine deiner Erfahrung.
Die sieben Geißlein in der Standuhr sind frei.
Keiner lockt in den dunklen Wald.
Keiner wird erschossen oder gefressen.

Göttliche Diplomatie.

Ein Versprechen am Altar Gottes:
Ich werde nicht übergriffig sein,
werde mich an dir nicht vergreifen,
nicht un-verschämt sein,
nicht distanzlos vor deiner Würde,
nicht die Grenzen überschreiten in böser Absicht.

„Am Morgen aber stand Laban früh auf, küsste seine Enkel und Töchter und segnete sie und zog hin und kam wieder an seinen Ort.
Jakob aber zog seinen Weg. Und es begegneten ihm die Engel Gottes“ (1. Mose 32,1f).

Mein utopischer Wunsch:
Das „Wort des Jahres 2018“ möge „Zärtlichkeit“ oder „Achtsamkeit“ sein.
Das „Unwort des Jahres 2018“ „Abschotten“, „Schlucken“ oder „Zuschlagen“.
Und das „Jugendwort des Jahres 2018“: „Schön, dass es dich gibt“.

Vor den unerledigten Geschäften davonlaufen, das ist Flucht.
Wer die Steine nicht ablädt, wird den Wunsch, sie zu werfen, nie los.

Mein „Fastenpredigtwunsch“:

Ich wünsche: Dass Sie den eigenen Steinen auf die Spur kommen.
Sie liegen tief am Grund im Seelenschlamm.
Sie tauchen plötzlich auf.

Ich wünsche: Dass Sie über Grenzen gehen, ansprechen, was war und klären, was sein wird.
Und dann – je auf Ihre Weise – einen Altar aufrichten mit ihren und des anderen Steinen.

Ich wünsche, dass Sie heilend an Grenzen nicht entsetzt stehen bleiben.

Sie umrunden den Altar. Und dann gehen Sie unbedarft, mit offenem Händen einladend der Grenze entlang. Es wird Begegnungen geben.
Mehr weiß ich nicht.

Mehr geht unter die Haut.
Mehr geht auch an die Nieren.

Christen glauben an offenen Grenzen.
Christen erzählen jenseits von Eden
in zerbrechlichen Bildern.
Christen kennen sich aus mit wunden Seelen.
Christen kennen sich aus mit menschlichen Schleichwegen.
Christen sind Grenzgänger.

Sie erklären diese begrenzte Welt und ihre begrenzte Zeit für vorläufig, ohne sie zu verlassen und Grenzen übergriffig zu überschreiten.

Jemand sagt mir überraschend:
„Es ist schön, dass es dich gibt.“

Das bleibt.
Das ist nachhaltig.
Das heilt Wunden jenseits der Grenze.
Und ich verstehe, wer ich bin.

Keine zwei Kreuze hinterm Rücken.
Kein Aber.
Keine Akte.
„Es ist schön, dass es dich gibt.“

Kein „hätte“ oder „würde“.
Kein „sollte“ oder „müsste“.
Nur so, wie ich bin.

Du bist einmalig.
Es ist schön, dass es dich gibt.

Heute fahren wir in Bussen Schülerinnen und Schüler nach Verdun. Oder Theresienstadt. Oder nach Berlin zur ehemaligen Mauer. Oder nach Polen, so wie wir nach Frankreich gefahren sind.
Wir können heilend über Grenzen gehen.
Im Krieg geht das nicht.
Das geht nur „jetzt“.

Primo Levi hat geschrieben: „Wann, wenn nicht jetzt“.
Heilend über Grenzen gehen, das geht nur jetzt.

Am „Grenz-Altar“ bleiben auf beiden Seiten Wunden.
Reste von Erinnerungen und Verletzungen.
Auch zwischen Polen und Deutschen.

Wenn an Grenzen Wunden gereinigt werden, dann stoppt die Vorwürfe.

Wenn an Grenzen Verletzungen sich schließen, dann legt die Steine auf den Altar.

Wenn an Grenzen Wunden verheilen, erst dann ist es gut.

An Grenzen wird man –
wenn Gott Zeuge ist –
nur auf beiden Seiten gewinnen.

Gott gebe euch und uns seinen grenzenlosen, heilenden Segen.